© 2010 bis 2022 by Thomas Forner - Alle Rechte vorbehalten
Impressum
Kurzgeschichte
„Der Diebstahl des Küchenfensters“
A
ls
die
Sonne
mit
ihrem
unbeschreiblichen
Farbspektrum
den
dunklen
Nachthimmel,
gleich
hinter
der
alten
Streuobstwiese,
für
wenige
Millimeter
blutrot
färbte
und
so
den
Sternen
langsam
ihre
lebensnotwendige
Dunkelheit
nahm,
stand
ich
voller
Leere,
Angst
und
Ungewissheit
am
Küchenfenster
in
unserem
Haus.
Ich
genoss
diesen
beruhigenden
Anblick,
während
sich
der
finstere
Himmel
mit
einem
immer
üppiger
werdenden
Farbenmeer
an
Rottönen
schmückte.
Beim
Anblick
der
alten
und
hochgewachsenen
Allee
an
Apfelbäumen
im
Farbenspiel
der
Naturgewalten,
spürte
ich
die
schönen
Erinnerungen
alter
Zeiten
in
mir
aufsteigen.
Mit
jedem
Wimpernschlag
wurde
die
Tür
im
Abendhimmel
hastlos
weiter
geöffnet
und
man
blickte
durch
einen
Türspalt
in
das
Morgenrot
einer
scheinbar
anderen
Welt.
Wohl
durch
diesen
wunderschönen
Anblick
angeregt,
spielten
sich
in
meinem
Kopf
Szenen
vergangener
Tage
ab.
Während
Tausende
an
Gedanken
in
Sekundenschnelle mein Leben Revue passieren ließen, hielten meine Erinnerungen plötzlich inne.
Es
musste
jetzt
fast
fünfundzwanzig
Jahre
her
sein,
als
ich
meine
geliebte
Heimatstadt
Nordhausen
verließ.
Ich
rechnete
kurz
nach,
ohne
auch
nur
einen
Moment
meinen
Blick
von
dem
beeindruckenden
Tagesanbruch
abzuwenden.
Wie
damals
in
der
Schule
folgte
gedanklich
eine
Zahl
der anderen.
fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig
Siebenundzwanzig
Jahre
waren
schon
vergangen,
als
Mina
mit
ihren
damals
75
Lenzen
die
Idee
hatte,
als
Geschenk
und
bleibende
Erinnerung
an meinen Umzug, diese Streuobstwiese anzulegen.
„
Du
wirst
sehen,
Käthe
“
,
hörte
ich
Mina
plötzlich
sagen,
„
diese
Bäume
spenden
dir
neben
den
süßen
Früchten
und
der
heilbringenden
Wirkung der Äpfel auch Kraft und Energie, an traurigen Tagen. “
Es
war
ein
sonniger
Oktobertag
im
Jahr
1918
und
ich,
gerade
frisch
verheiratet,
stand,
wie
auch,
jetzt
am
Küchenfenster
und
blickte
in
die
Ferne.
Die
alte
Spieluhr
aus
Porzellan
erhellte
im
Hintergrund
den
Raum
mit
ihren
schönen
und
zeitlosen
Klängen.
Sie
war
ein
Hochzeitsgeschenk
meines
Vaters
und
immer,
wenn
ihre
Melodien
zu
hören
waren,
fühlte
ich
mich
eingebettet
in
einen
samtweichen
Schleier
aus
Liebe
und
Geborgenheit.
An
diesem
Tag
lag
das
Herbstparfum
des
goldenen
Oktobers
in
der
Luft,
welches
mich
immer
an
feuchte
Erde
und
heruntergefallene
gelb-rote
Blätter
erinnert.
Ich
weiß
noch,
wie
ich
zu
Mina
blickte,
welche
am
Tisch
saß
und
die
Namensschilder
für
die
Obstbäume
beschriftete.
„
So
kannst
du
später
dem
Geschmack
einen
Namen
geben
“
,
sagte
sie
und
zählte
die
kunstvoll
verzierten
Etiketten.
„
Kaiser
Wilhelm,
Boskoop,
Gravensteiner,
Schöner
aus
Nordhausen,
Albrechtsapfel,
Goldparmäne,
Ontario
“
….
Sie
kannte
neben
dem
Namen und der Herkunft einer jeden Apfelsorte auch deren Geschmack, Erntezeiten und viele alte überlieferte Geschichten.
Wir
gingen
an
diesem
Tag
zusammen
zur
alten
Wiese
hinter
unserem
Haus.
Wir,
das
waren
neben
mir
und
meinem
Mann
Kurt
noch
seine
Mutter
Mina
und
Herr
Weigelt,
unser
Kutscher.
Mina
und
ich
markierten
die
Stellen
am
Boden
mit
einem
kleinen
Holzpfahl,
wo
die
hochstämmigen Apfelbäume ihren Platz für die nächsten 50, 60 oder noch mehr Jahre bekommen sollten.
„
Einen
alten
Baum
verpflanzt
man
nicht
“
,
sagte
Mina
hin
und
wieder
und
lächelte
mir
dabei
zu.
Sie
wusste,
dass
wir
das
gleiche
Schicksal
teilten,
denn
auch
sie
zog
zu
ihrem
Mann
und
verließ
hier
ihr
elterliches
Heim.
So
oft
es
ihr
möglich
war,
zog
es
sie
jedoch
wieder
zu
ihren
Wurzeln
in
die
Heimat
und
Jeder
wusste,
dass
sie
hier
auch
ihre
letzte
Ruhe
finden
mochte.
Während
Kurt
und
Herr
Weigelt
mit
der
Spitzhacke die ersten Löcher aushoben, blickte unser Nachbar über den Zaun und rief Mina lachend zu: „ Steinreich “.
Ich
wusste
nur
allzu
gut,
was
er
damit
meinte,
denn
die
Zweideutigkeit
dieses
Wortes
galt
der
geografischen
Lage
unseres
Dorfes.
Zwar
waren
Mina´s
Vorfahren
seit
Generationen
fleißige
und
geachtete
Bauern
gewesen,
welche
sich
mühsam
eine
größere
Bauernwirtschaft
aufgebaut
und
etwas
Geld
erwirtschaftet
hatten.
Steinreich
wurden
hier
jedoch
die
Eigentümer
der
schlechten
und
steinigen
Böden
genannt,
welchen
es
nur mit größter Mühe gelang, die Äcker zu bewirtschaften und nutzbar zu machen.
„
Steinreich,
wie
mein
Nachbar
“
,
rief
nun
auch
Mina
und
winkte
freundlich
zurück.
Im
Hintergrund
waren
die
starken
Schläge
der
Spitzhacken zu hören, welche Steinschicht um Steinschicht unter dem Hauch an Erdreich brachen.
Diese
Erinnerung
schien
mir
statt
siebenundzwanzig
Jahren
nur
siebenundzwanzig
Tage
her
zu
sein
und
ich
spürte
wieder
die
Wärme
und
Sicherheit der alten Zeiten, im Kreise der Familie und der dörflichen Gemeinschaft.
Das
Morgenrot
breitete
sich
nun
immer
weiter
über
dem
Horizont
aus.
Die
anfänglich
noch
zählbaren
Strahlen
der
Sonne
wuchsen
schnell
zu
einem
großflächigen
Farbenfeuer
heran,
in
dessen
Mitte
die
alten
Apfelbäume
ruhten.
Ich
wusste
in
diesem
Moment,
dass
dieses
optische
Gesamtkunstwerk kein Maler so auf einem Blatt festhalten und für die Nachwelt wiedergeben könnte.
„ Himmel und Erde “ , schoss mir durch den Kopf, gefolgt von „ die Ruhe vor dem Sturm. “
Die
Gesichter
verschwammen
von
einer
Sekunde
auf
die
andere
und
ich
versuchte,
die
schönen
Gedanken
zu
greifen
und
die
Momente
noch
einmal
zu
spüren.
Ich
wollte
nicht
in
der
Angst
und
Hilflosigkeit
der
letzten
Tage
ertrinken.
So
war
es
der
Klang
der
Spieluhr,
welcher
mir
in
einem Sekundenbruchteil einen Glücksmoment der letzten
Wochen
in
meine
Gedanken
zurückholte.
Es
war
ein
Geschenk
des
Himmels,
welches
traurigerweise
nicht
jeder
Mutter
vergönnt
war.
Auch
damals
stand
ich
hier
und
mein
Blick
streifte
in
die
Ferne,
als
ich
einen
jungen
Mann
über
die
Felder
wandern
sah.
Nach
dem
Kriegsende
war
dies
ein
täglicher
Anblick,
da
viele
Menschen
in
ihre
Heimat
und
zu
ihren
Familien
zurückkehrten.
Ich
wartete
zu
dieser
Zeit
seit
Wochen
auf
ein
Lebenszeichen
von
meinen
beiden
Kindern
und
betete
jeden
Tag
für
sie.
Als
mir
der
junge
Mann
zuwinkte
und
mit
rennen
begann,
erkannte
ich
unseren
jüngsten
Sohn.
Er
war
stark
abgemagert,
hatte
aber
den
Krieg
und
das
Hungerlager
in
Bad
Kreuznach
überlebt.
Ich
rannte
ihm
entgegen
und
schloss
ihn
mit
Tränen
in
den
Augen
in
die
Arme.
Wie
lange
wir
so
standen,
weiß
ich
nicht
mehr,
aber
der
Moment
der Umarmung sagte mehr als tausend Worte.
Das
Knacken
des
Feuers
im
Ofen,
gefolgt
vom
lauten
Läuten
der
Wanduhr
riss
mich
aus
meinem
Traum.
Während
ich
wie
fest
verwurzelt
auf
der
Stelle
stand,
wanderte
mein
Blick
vom
Ofen
weiter
zum
gedeckten
Frühstückstisch.
Als
das
achtmalige
Schellen
der
Küchenuhr
erlosch,
spürte
ich
die
Anspannung
und
Hilflosigkeit
wieder
in
mir
aufsteigen.
Der
Schmerz
durchdrang
meinen
Körper
erneut
und
nahm
mir
die
Luft
zum
Atmen.
Als
ein
kurzer
Luftzug
durch
das
Fenster
meine
Haut
berührte
und
sich
die
Bäume
dabei
leicht
im
bodennahen
Nebel
bewegten,
war es, als streichelten sie meine Seele und ich ließ meinen Blick ein letztes Mal verträumt aus dem Fenster gleiten.
Die
Sonne
wanderte
ununterbrochen
weiter
und
präsentierte
sich
nun
in
ihrer
ganzen
Pracht.
Ein
großer,
rund
leuchtender
Energiepunkt
voller Stärke und Schönheit, so allmächtig und scheinbar unvergänglich.
„ Vergänglichkeit durch Willkür “ , spukte durch meinen Kopf.
„
Die
Sonne
wird
wohl
nicht
für
alle
Zeiten
diese
Streuobstwiese
mit
ihren
warmen
Strahlen
wach
küssen.
Das
malerische
Gesamtkunstwerk
wird
bald
wieder
der
dunklen
Nacht
weichen
müssen.
“
Dies
hat
aber
nichts
mit
Willkür
zu
tun,
denn
dies
ist
der
Lauf
der
Natur
und
gehört
schon seit eh und je zum Leben dazu.
„ Tag und Nacht, Gut und Böse, Willkür und … “
Da
spürte
ich
eine
Träne
langsam
meine
Wange
herunter
wandern.
Sie
war
nicht
allein,
aber
hatte
die
schwere
Aufgabe,
dem
folgenden
Tränenmeer
den
Weg
zu
weisen.
Ich
fühlte
mich
jetzt
genau
wie
diese
erste
Träne.
Sie
wurde
vom
Auge
in
eine
ungewisse
Zukunft
geschickt,
ins Nichts, ohne Hilfe und ohne Hoffnung auf einen Weg zurück.
Mein
Kopf
war
jetzt
fast
frei
von
Erinnerungen
und
die
Bilderflut
verebbt
langsam,
um
doch
plötzlich
bei
einem
Gedanken
inne
zu
halten.
Es
war
im
Juni
dieses
Jahres.
Am
Küchentisch
saßen
unser
Hausarzt
und
Kurt,
beide
weinten.
Ich
höre
die
Stimme
unseres
langjährigen
Freundes, welcher für sich und seine Familie schon eine folgenschwere Entscheidung getroffen hatte.
„
Kommt
mit
und
packt
alles
zusammen
“
,
sagte
er.
„
Folgt,
wie
ich
den
Amerikanern
und
den
kt
nicht
zu
lange
darüber
nach.
Ihr
werdet
sonst
alles verl ieren. “
Die
Dielen
knarrten,
als
ich
mich
kraftlos
auf
dem
Küchenstuhl
niedersenkte,
dort
wo
ich
auch
in
den
letzten
Tagen
und
Nächten
jede
freie
Minute
hoffend
und
betend
verbracht
hatte.
Das
Geräusch
der
Gendarmerie
vor
unserem
Haus
schreckte
mich
auf
und
im
grell
leuchtenden
Rot
der
Bremslichter
erlosch
der
letzte
Funke
Hoffnung
in
mir.
Ich
sah
am
gesenkten
Blick
meines
Mannes,
der
von
den
lautstarken
Klopfen
und Rufen verschreckt an die Eingangstür gegangen war, dass die Ungewissheit jetzt in Gewissheit übergehen würde.
Ich
ging
zum
Wandkalender
und
riss
mit
zitternder
Hand
das
gestrige
Kalenderblatt
ab.
Als
Kurt
mit
weinenden
Augen
in
der
Küchentür
stand, schrieben wir „ Mittwoch, den 10. Oktober 1945! “
Die
Spieluhr
schlug
ihren
letzten
Ton
an,
als
Kurt
zu
mir
kam
und
sagte:
„
Käthe,
setz
dich
bitte.
“
In
diesem
Moment
wusste
ich
noch
nicht,
dass
ich
gerade
den
letzten
Sonnenaufgang
durch
mein
geliebtes
Küchenfenster
gesehen
hatte.
Weitere
zwei
Stunden,
nachdem
die
Spieluhr
an
diesem
Morgen
für
immer
verstummte,
waren
wir,
als
enteignete
und
kreisverwiesene
Familie,
nur
mit
dem
Wenigen,
was
wir
tragen
konnten, zu Fuß auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.
Als
ich
drei
Jahrzehnte
nach
dieser
Vertreibung,
weit
entfernt
von
meiner
alten
Heimat,
die
Augen
für
immer
schließen
sollte,
reichten
mir
Mina, Kurt und mein geliebter Vater von oben die Hand.
„ Ich habe es mir zu Lebzeiten immer gewünscht, aber den Sonnenaufgang über unserer Streuobstwiese durfte ich nie mehr sehen.
Vergessen hab ich ihn nie! “
Thomas Forner - In Erinnerung an Käthe Johanna Frieda Agnes Morgenroth, geb. Förstemann